Werte­systeme

All politics is moral, but not everybody operates from the same view of morality.

— George Lakoff 1

Politische Positionen sind kein Ergebnis aus rationaler Abwägung von objektiven Argumenten. Sie sind immer ein Spiegelbild der jeweiligen Werte. Das ist der Grund warum Menschen zu sehr unterschiedlichen Schlussfolgerungen und politischen Maßnahmen gelangen, selbst wenn sie über dieselben Informationen verfügen.

Da Politik ein zutiefst moralisches Unterfangen ist, kommt politische Kommunikation nicht ohne moralische Werte aus. Konservative haben das perfektioniert. Ihre Kommunikation lebt oftmals von leeren Phrasen und Logikfehlern. Sie ist dennoch überzeugend, solange sie konservative Werte vermittelt.

Progressive sind hingegen in den vergangen Jahren zu einer technokratischen Politik und faktenzentrierten Kommunikation übergegangen. Zu groß war die Angst vor Vorurteilen und Etiketten wie „Gutmenschen”, „Utopisten” und „Hedonisten“. Progressive Werte wie Kooperation, Freiheit und Selbstbestimmung finden kaum in der Kommunikation statt oder wurden von Konservativen übernommen und mit konservativen Werten in Verbindung gebracht.

Das hat dazu geführt, dass niemand mehr so richtig weiß, was progressiv eigentlich bedeutet, weder Politiker:innen noch Bürger:innen. Und diejenigen, die es wissen, suchen verzweifelt nach Parteien und politischen Gruppen, die dafür einstehen.

Von faktenzentrierter zu wertezentrierter Kommunikation

Die Lösung ist, dass Progressive sich von ihrer technokratischen Kommunikation befreien und wieder anfangen über ihre Werte zu sprechen. Wenn wir in den folgenden Kapiteln von „progressiv kommunizieren“ sprechen, meinen wir damit genau das. Eine Kommunikation, die sich ihrer progressiven Werte bewusst ist und diese selbstbewusst ausspricht.

Bevor wir progressive Kommunikation entwickeln und der vorherrschenden konservativen Politik etwas entgegensetzen können, müssen wir zunächst verstehen, was progressiv und konservativ bedeuten. Während es viele politische Richtungen und Ideologien gibt, zeigt Lakoffs Kognitionsforschung, dass sich diese auf letztlich zwei Wertesysteme zurückführen lassen: progressiv und konservativ.

Entstehung und Wirkung der Wertesysteme

Ursprung im Gehirn

Alle Menschen tragen sowohl das progressive als auch das konservative Wertesystem in sich und können deshalb politische Themen sowohl progressiv als auch konservativ bewerten. Die Wertesysteme sind physisch als neuronale Schaltkreise im Gehirn verankert.2 Langfristige Faktoren wie Erziehung, Bildung und Narrative oder kurzfristige Faktoren wie Sprache, Ereignisse und Situationen können jeweils eins der beiden Wertesysteme aktivieren und stärken. Das aktive Wertesystem entscheidet, wie wir ein Thema moralisch einordnen.

Wechsel zwischen Wertesystemen

Häufig bezeichnen sich Menschen als progressiv bzw. links oder konservativ bzw. rechts. Das erweckt den Anschein, es handele sich um ein starres Konstrukt aus Moralvorstellungen. Obwohl in der Regel eins der Wertesysteme über stärkere neuronale Schaltkreise verfügt, haben fast alle Menschen Schaltkreise beider Wertesysteme im Gehirn. Das heißt, die allermeisten Menschen sehen die Welt nicht schwarz oder weiß bzw. rein konservativ oder rein progressiv. Stattdessen wechseln sie unbewusst zwischen den beiden Wertesystemen. Zu manchen Themen haben sie eine progressive und zu anderen eine konservative Einstellung. Lakoff und Wehling nennen dieses Phänomen „Biconceptualism“.3

Wenn wir im weiteren Verlauf von „Progressiven“ oder „Konservativen“ sprechen, meinen wir damit Menschen, die themenübergreifend vorrangig progressive bzw. konservative Werte vertreten.

Einordnung der Wertesysteme

Progressives Wertesystem

Das progressive Wertesystem strebt eine gleichberechtigte Gesellschaft an, die demokratisch organisiert ist. Alle Menschen haben aufgrund ihrer bloßen Existenz ein bedingungsloses Recht auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand. Sind ihre Grundbedürfnisse erfüllt, sind Menschen frei und können ihre Potentiale entfalten und in die Gemeinschaft einbringen. Durch Kooperation werden unterschiedliche Talente optimal genutzt und es entstehen Innovationen. Die Gesellschaft entwickelt sich dadurch weiter und erzeugt mehr Wohlstand für alle.

Dabei können auch die Bedingungen für das gemeinschaftliche Miteinander neu ausgehandelt werden. Progressive sind sich bewusst, dass gesellschaftliche Systeme keine Naturgesetze sind, sondern von Menschen erschaffen wurden um Freiheit, Sicherheit und Wohlstand zu garantieren. Wenn Strukturen und Regeln jedoch Fortschritt behindern oder gesellschaftliche Probleme verursachen, müssen sie verändert werden.

Aus progressiver Perspektive muss deshalb die bestehende Machtkonzentration überwunden und verhindert werden. Dafür braucht es einerseits die Freiheit, selbst über das eigene Leben bestimmen zu können. Andererseits braucht es demokratische Strukturen, um faire Entscheidungen für die Gemeinschaft treffen zu können.

Zusammengefasst resultieren daraus die folgenden Werte, Überzeugungen und Ideale:

  • Soziale Verantwortung: Menschen übernehmen Verantwortung für ihre Handlungen und wie diese sich auf sie selbst, andere Menschen und die Umwelt auswirken.
  • Kooperation: Fortschritt entsteht, wenn Menschen ihre individuellen Fähigkeiten und Stärken zusammenbringen.
  • Demokratie: Alle Menschen haben die Macht, die Gesellschaft und ihre Organisationen zu gestalten. Die Verteilung von Macht wird durch Verfassungen organisiert und legitimiert.

Konservatives Wertesystem

Das konservative Wertesystem strebt eine hierarchische Gesellschaft an, deren Machtverhältnisse durch Wohlstand definiert sind. Es basiert auf der Annahme, dass Menschen ohne Wettbewerb und Aufstiegschancen keinen Anreiz zu Leistung und Fortschritt haben. Für eine leistungsfähige und innovative Gesellschaft müssen Menschen deshalb zu Einzelkämpfer:innen werden, die um Wohlstand konkurrieren und sich die Erfüllung von Grundbedürfnissen wie Sicherheit, Gesundheit und Bildung selbst erarbeiten.

Damit ist im konservativen Wertesystem der Überlebenskampf das Vorbild für moderne Gesellschaften: Um zu überleben, handelt jede:r nach dem eigenen Nutzen. Stärkere setzen sich gegen Schwächere durch, wodurch sich eine Rangordnung aus Anführenden und Gefolge herausbildet.

Da aus konservativer Perspektive diese Gesetze von der Natur vorgegeben sind, sieht sie auch für die Gesellschaft ein hierarchisches System als gegeben und unvermeidbar an. Menschen müssen diese natürliche Ordnung hinnehmen. Wenn sie nach den Regeln spielen, können sie innerhalb dieser Ordnung das Beste für sich herausholen.

Zusammengefasst lassen sich daraus die folgenden Werte, Überzeugungen und Ideale ableiten:

  • Eigenverantwortung: Jeder Mensch ist für sich selbst verantwortlich und sollte sich nicht auf andere verlassen.
  • Wettbewerb: Fortschritt entsteht, wenn Menschen gegeneinander konkurrieren und den Ansporn haben in der Hierarchie aufzusteigen.
  • Hierarchie: Der Wert eines Menschen hängt von seiner Leistungsfähigkeit ab. Je höher die Leistung, desto mehr Macht und Wohlstand steht ihm in der Gesellschaft zu.

Wertesystem vs. Ideologie

Ideologien sind keine Wertesysteme, sondern resultieren aus dem progressiven und dem konservativen Wertesystem. Ein Beispiel ist die liberale Ideologie. Der hier zentrale Freiheitsbegriff wird sowohl progressiv als auch konservativ eingeordnet.

Einerseits teilt der Liberalismus progressive Werte wie Selbstbestimmung und die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Politisch äußert sich das z.B. durch die Gleichstellung der Geschlechter und besseren Datenschutz. Andererseits steht beim Liberalismus vor allem die individuelle Freiheit des einzelnen Menschen statt die Freiheit aller Menschen im Vordergrund. Diese individualistische Auslegung des Freiheitsbegriffs entspricht dem konservativen Wertesystem und hat entsprechende politische Konsequenzen.

Besonders deutlich wird dies an der neoliberalen Ideologie und der daraus resultierenden Politik: Neoliberale nehmen an, Freiheit entstünde wenn Märkte unreguliert sind, Menschen nur für sich selbst Verantwortung übernehmen und der Staat hauptsächlich ihr Eigentum schützt. Der daraus resultierende Abbau von Sozialleistungen und die Privatisierung öffentlicher Infrastruktur hat jedoch die Freiheit der meisten Menschen eingeschränkt, da ihre Grundbedürfnisse wie Wohnen, Mobilität und Gesundheit nicht länger bedingungslos erfüllt werden. Freiheit wird somit zum Privileg der Wohlhabenden, die sich die Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse leisten können. Daraus schließt sich, dass der Neoliberalismus vor allem dem konservativen Wertesystem folgt.

Bedeutung der Wertesysteme für die Politik

Das progressive und konservative Wertesystem ermöglichen es, die komplexe politische Haltung von Menschen zu verstehen und differenziert zu betrachten. Das spiegelt die Realität besser wider als die Einordnung in ein Links-Rechts-Spektrum. Erstens sind „links“ und „rechts“ nicht eindeutig definiert. Zweitens hat die Kognitionsforschung widerlegt, dass Menschen nur ein Wertesystem besitzen. Und drittens zeigen politische Debatten täglich auf, dass „Linke“ zwar vorrangig progressive und „Rechte“ konservative Werte vermitteln, aber beide bei bestimmten Themen das Wertesystem wechseln. In Kapitel 5 zeigen wir dazu einige Beispiele.

Footnotes

  1. George Lakoff (2014): The ALL NEW Don’t Think of an Elephant!: Know Your Values and Frame the Debate. Chelsea Green Publishing. S. XIV

  2. Ebd. S. 40-41

  3. Ebd. S. 18