Werte statt Ziel­gruppen

Wie wir in Kapitel 3 beschrieben haben, ist die zentrale Aufgabe von politischer Kommunikation die eigenen moralischen Werte in den öffentlichen Diskurs zu bringen. Und zwar nicht nur während eines Wahlkampfs oder einer Kampagne, sondern über einen längeren Zeitraum hinweg, damit sich das entsprechende Wertesystem in den Köpfen der Menschen festigen kann.

Bei den meisten politischen Kampagnen beobachten wir jedoch, dass die Erkenntnisse aus der Kognitionswissenschaft nicht berücksichtigt werden. Stattdessen werden dieselben Praktiken genutzt, die im Produktmarketing angewendet werden – allen voran die Definition und gezielte Ansprache von Zielgruppen. Kampagnen sind dadurch nicht erfolgreich. Sie sind zudem sehr aufwendig und für Organisationen mit wenig Geld kaum umsetzbar.

In diesem Kapitel erklären wir, was Zielgruppenkommunikation ist, wann sie für politische Kommunikation geeignet ist und wann nicht, und was die bessere Alternative ist.

Was ist Zielgruppen­kommunikation?

Ausgangspunkt der Zielgruppen­kommunikation

Im Zuge der Individualisierung der Gesellschaft haben sich immer differenziertere Lebensentwürfe und Bedürfnisse herausgebildet. Unternehmen reagierten darauf mit spezifischen Produkten und Dienstleistungen, für die eine Massenmarketing-Strategie nicht geeignet schien. Stattdessen versprach man sich höhere Umsätze und niedrigere Marketingkosten, wenn man alle Marketingaktivitäten gezielt an potentielle Käufer:innen ausrichtet, die sogenannte Zielgruppe.

Die Einteilung der Gesellschaft in soziale Gruppen stammt nicht aus dem Marketing, sondern aus der Soziologie. Menschen sind soziale Wesen, die auf das Miteinander mit anderen Menschen angewiesen sind. Ohne einander könnten wir nicht überleben und keine eigene Identität entwickeln. Deshalb finden wir uns in Gruppen zusammen.1

Konsum als Identitätsmerkmal

Während früher soziale Gruppen vor allem durch den Wohnort, Beruf und Status bestimmt waren, kommen heute weitere Faktoren hinzu, wie Konsum, Hobbies und politische Einstellungen. Insbesondere Konsum hat sich zu einem maßgeblichen identitätsstiftenden Faktor entwickelt: Über den eigenen Konsum – also wie man sich ernährt, welche Kleidung man trägt und wie man die eigene Wohnung einrichtet – kommuniziert man nicht nur die eigenen Werte, sondern auch die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Dieses Phänomen wirkt in beide Richtungen: Man konsumiert, um zu einer Gruppe zu gehören und man verbindet sich mit Gruppen, die dieselben Dinge konsumieren. Es liegt also nahe, sich dieses Phänomen für die Bewerbung von Konsumgütern zu Nutze zu machen.

Milieus

Aus diesen Erkenntnissen ist die sogenannte Milieuforschung entstanden. In Deutschland haben sich insbesondere die Sinus und SIGMA Milieus etabliert. Sie kategorisieren die Gesellschaft nach Grundorientierung (traditionell, modern, postmodern) und wirtschaftlicher Lage (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht). Letztere beschreiben die Institute fälschlicherweise als „soziale Lage“ bzw. „sozialer Status”.

Neben Unternehmen und Agenturen stützen sich auch die Politik und nicht-kommerzielle Organisationen auf Milieus. So ordnet beispielsweise diese Studie der Bertelsmann Stiftung Wahlberechtigte den Sinus-Milieus zu.2

Vorgehen bei der Zielgruppen­kommunikation

Um zunächst Zielgruppen zu definieren, werden allerlei Daten analysiert. Gruppen mit ähnlichen Merkmalen werden zu einem Segment zusammengefasst. Segmente untereinander sollen sich wiederum möglichst stark voneinander unterscheiden. Um ein besseres Bild von den Menschen innerhalb einer Gruppe zu erhalten, versucht man sie möglichst anschaulich zu beschreiben:

Martin, 42 Jahre, lebt in Wiesbaden mit Frau und 2 Kindern, arbeitet als Kfz-Mechaniker, verdient 2.500€ brutto im Monat und schaut gerne Fußball.

Wenn diese Beschreibung in der täglichen Arbeit zu sperrig ist, kann man der Zielgruppe einen Namen geben, der Assoziationen mit ihren demografischen Merkmalen und ihrem Lebensstil erweckt. So sind zum Beispiel Begriffe wie „Latte Macchiato Mutter“ für urbane Frauen mit kleinen Kindern oder „Silver Surfer“ für seniorige Internetnutzer entstanden.

Im Anschluss überlegt man, wie man die Zielgruppe am besten erreicht. Vereinfacht dargestellt:

Martin mag Fußball? Perfekt, dann schalten wir Fernsehwerbung in der Pause des nächsten Champions League Spiels.

Jetzt braucht es nur noch eine Botschaft, die bei Menschen wie Martin ankommt.

Eigenschaften der Zielgruppen­kommunikation

Kaum Streuverluste, aber auch kaum Streugewinne

Wenn eine Marketingmaßnahme Menschen außerhalb der anvisierten Zielgruppe erreicht, spricht man von Streuverlusten. Man geht davon aus, dass die Marketingmaßnahme bei diesen Menschen weniger erfolgreich ist, da sie das beworbenen Produkt nicht in Betracht ziehen. Streuverluste sollten deshalb so weit wie möglich vermieden werden.3 Ansonsten gibt man Geld an den falschen Stellen oder besser gesagt an den falschen Menschen aus.

Zielgruppenkommunikation gilt als effektives Mittel um Streuverluste zu minimieren. Doch mit ihr gibt man auch von Vornherein die Möglichkeit auf, Menschen außerhalb der definierten Zielgruppe zu gewinnen. Man trifft eine Annahme, für wen das Produkt oder die Dienstleistung interessant sein könnte, und beschränkt das Verkaufspotential auf diese Annahme.

Da das nicht für alle Produkte und Dienstleistungen funktionieren würde, arbeiten viele Unternehmen nach wie vor nach dem Gießkannen-Prinzip und nehmen Streuverluste in Kauf. Ein Beispiel sind Plakatflächen an Bahnhöfen oder der Aldi-Prospekt im Briefkasten.

Geringe Reichweite oder viel Aufwand

Je differenzierter und präziser man Zielgruppen anspricht, desto weniger Menschen erreicht man. Um die Reichweite zu erhöhen, müssten mehrere unterschiedliche Zielgruppen angesprochen werden. Das vervielfacht den Aufwand, denn nach dem Prinzip der Zielgruppenkommunikation braucht man für jede Zielgruppe spezifische Strategien, Botschaften, Kanäle und Werbemittel. Dafür benötigt man nich nur finanzielle Mittel, sondern auch Expert:innen, die sich um die Entwicklung und Aussteuerung solcher Maßnahmen kümmern.

Deshalb beschränkt man sich in der Regel auf wenige Zielgruppen mit hohem Potential. Potential ist dann gegeben, wenn die Zielgruppe ausreichend groß ist, eine Wachstumstendenz aufweist und es nicht viele Wettbewerber gibt, die dieselbe Zielgruppe ansprechen.

Von Zielgruppen zu Filterblasen

Digitalisierung und Social Media haben Zielgruppenkommunikation auf ein neues Level gebracht. Verhalten im Internet lässt sich problemlos nachverfolgen, sodass binnen kürzester Zeit präzise Segmente erstellt und Werbung an sie ausgespielt werden kann. Gleichzeitig sorgen Algorithmen dafür, dass Menschen nur noch Inhalte sehen, die für sie interessant sind.

Wir wissen mittlerweile, welche Folgen diese Entwicklung für unsere Gesellschaft und die politische Meinungsbildung hat: Menschen bewegen sich zunehmend in ihrer eigenen Bubble, verlieren die Fähigkeit Meinungsverschiedenheiten auszuhalten und sind empfänglich für Falschinformationen, solange sie ihrem Weltbild entsprechen. Das öffnet die Tür für Populismus und Verschwörungsideologien.

Zielgruppen­kommu­nikation in der Politik

Wann Zielgruppen­kommuni­kation in der Politik sinnvoll ist

Die Auseinandersetzung mit Zielgruppen hat den positiven Effekt, dass man mehr über Menschen lernt und sich besser in sie hineinversetzen kann. Denn um die Zielgruppe zu kennen, muss man sie zunächst erforschen, entweder über eigene Studien und Befragungen oder durch Rückgriff auf bestehende. Die dabei gesammelten Erkenntnisse zu Bedürfnissen, Sorgen und Lebensumständen der Zielgruppe können als Quelle für Narrative und Kernbotschaften dienen. Dadurch kann eine Kommunikation entstehen, die besonders nah am Leben der Zielgruppe dran ist, ihre Bedürfnisse und Sorgen adressiert und ihre Sprache verwendet.

Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen zielgruppengerechte Ansprache sinnvoll ist. Hier sind zwei Beispiele:

Direkte Kommunikation mit Betroffenen

Das Hineinfühlen in die Zielgruppe ist besonders dann hilfreich, wenn sehr unmittelbare Kommunikation stattfindet. Beispiele sind Sprechstunden für Bürger:innen oder Gespräche mit Menschen an der Haustür oder auf der Straße, wie sie während eines Wahlkampfs stattfinden. Die vorherige Auseinandersetzung mit der jeweiligen Zielgruppe kann helfen, bei diesen Gesprächen konkret und lebensnah zu argumentieren.

Kommunikation innerhalb spezifischer Kanäle

Wenn Kontext und dadurch Publikum stark eingegrenzt und von vornherein klar sind, sollte die eigene Kommunikation darauf ausgerichtet werden. Beispiele sind Reden im Parlament, bei denen zu anderen Parteien gesprochen wird, oder Vorträge zu bestimmten Themen bei Veranstaltungen von Organisationen und Fachverbänden. Auch digitale Kommunikation innerhalb geschlossener Gruppen, z.B. in Facebook-Gruppen oder Telegram-Kanälen, gehört dazu.

Wann Zielgruppen­kommunikation in der Politik nicht sinnvoll ist

Selbst wenn man in bestimmten Situationen einzelne Zielgruppen adressiert, kommt die Kommunikation nicht ohne progressive Werte aus. Denn die Kognitionswissenschaft lehrt uns: Politisches Denken und Handeln basiert auf Werten, nicht auf demografischen Merkmalen, wie Alter, Herkunft, Bildung oder Einkommen.

Wie in Kapitel 2 beschrieben, lassen sich unterschiedliche politische Einstellungen von Menschen auf zwei Wertesysteme zurückführen: das progressive und das konservative Wertesystem. Wenn es nur zwei Wertesysteme gibt, ist es weder notwendig noch zielführend, die Gesellschaft in kleine Zielgruppen zu unterteilen. Da die meisten Menschen Biconceptuals sind, gibt es in fast allen Zielgruppen Menschen mit progressiven Werten.

Wenn man sich jedoch in der Kommunikation auf wenige Zielgruppen konzentriert, gibt man von Beginn an die Möglichkeit auf, progressiv eingestellte Menschen außerhalb der definierten Zielgruppe zu erreichen. Entweder sprechen die entworfenen Botschaften Menschen außerhalb der Zielgruppe nicht an oder die gewählten Kanäle erreichen sie nicht.

Zielgruppenkommunikation ist insbesondere in drei Fällen nicht sinnvoll:

  • Kampagnen für politische Maßnahmen, die einen Großteil der Menschen betreffen bzw. ein gesamtgesellschaftliches Interesse haben (z.B. Atomausstieg, Steuern, Tempolimit auf Autobahnen)
  • Werbung für Parteien, die Mehrheiten gewinnen müssen, um ihr Programm umzusetzen. Da zielgruppenspezifische Ansprache Menschen ausschließt, kann sie höchstens von Parteien genutzt werden, die nur ein bestimmtes Klientel bedienen.
  • Geringe Ressourcen, die für eine gezielte Ansprache von Zielgruppen nicht ausreichen (darunter Geld, Arbeitskraft und Expertise)

Wertezentrierte Kommunikation als überlegene Alternative

Milieus und andere Versuche, Menschen nach demografischen Merkmalen zu gruppieren, werden der Komplexität des Menschen und der politischen Meinungsbildung nicht gerecht. Es ist eine Vereinfachung, die im schlimmsten Fall zu Stereotypisierung und Schubladendenken führt. Stattdessen ist das Ziel, alle progressiv eingestellten Menschen und Biconceptuals zu erreichen, unabhängig von Geschlecht, Alter, Herkunft, Bildung, Einkommen, Wohnort und so weiter.

Wertezentrierte Kommunikation hat dadurch viele Vorteile gegenüber Zielgruppenkommunikation:

  • Hohe Reichweite: Sehr viele Menschen werden erreicht, auch jene, von denen man gar nicht geglaubt hat, dass man sie erreicht. Die Wähler:innenwanderung von den Linken zur AfD bei der Bundestagswahl 2021 ist ein Beispiel dafür, wenn auch kein positives.4
  • Mehrheitsfähigkeit: Parteien und andere Organisationen kommunizieren ihren Anspruch, Politik für alle Menschen zu machen. Das entspricht nicht nur dem progressiven Selbstverständnis von einer gleichberechtigten Gesellschaft, sondern ist auch notwendig, um Mehrheiten zu gewinnen und progressive Politik umzusetzen.
  • Effizienz: Zeit und Geld fließen in die iterative Entwicklung von wenigen, gut durchdachten und wertezentrierten Botschaften statt in die gezielte Aussteuerung von halbgaren Claims (Qualität vor Quantität).
  • Effektivität: Wenn die gleichen Botschaften ständig wiederholt werden, hat das einen größeren Effekt auf das Gehirn als wenn unterschiedliche, zielgruppenspezifische Botschaften gesendet werden und der Wiederholungseffekt dadurch abnimmt. Je öfter eine Botschaft wiederholt wird, desto größer ist die Wirkung.

Im nächsten Kapitel übersetzen wir die zentralen Erkenntnisse dieses Handbuchs in einen Leitfaden für die Kommunikationspraxis.

Footnotes

  1. Louka Goetzke (2021): Das zwischen uns: Warum wir beziehungsfähige Organisationen brauchen. In: Neue Narrative (April 2021): Ausgabe #11 Beziehungen, S. 6-13 und online unter https://www.neuenarrative.de/magazin/beziehungsfaehige-organisationen-warum-wir-sie-brauchen/ (zuletzt aufgerufen am 12.03.2022)

  2. Robert Vehrkamp, Klaudia Wegschaider (06.10.2017): Populäre Wahlen: Mobilisierung und Gegenmobilisierung der sozialen Milieus bei der Bundestagswahl 2017. Bertelsmann Stiftung. S. 35: https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/ZD_Populaere_Wahlen_Bundestagswahl_2017_01.pdf (zuletzt aufgerufen am 11.03.2022)

  3. SEO-Küche (09.03.2021): Streuverluste. Online unter: https://www.seo-kueche.de/lexikon/streuverluste/ (zuletzt aufgerufen am 15.03.2021)

  4. Norddeutscher Rundfunk (27.09.2021): Bundestagswahl 2021: Wie die Wähler wanderten. Online unter: https://www.tagesschau.de/wahl/archiv/2021-09-26-BT-DE/analyse-wanderung.shtml (zuletzt aufgefuden am 15.05.2023)